NAHE UND FERNE VISIONEN

Es kam der Tag, an dem Eragon im Wald hinter Oromis’ Hütte zur Baumgrotte ging, sich auf den weißen Stumpf setzte, den Geist öffnete, um die Lebewesen um ihn herum zu beobachten, und nicht nur die Vögel, Raubtiere und Insekten wahrnahm, sondern mit ihnen auch die Pflanzen des Waldes.
Sie besaßen eine andere Art von Bewusstsein als Tiere: Sie war träge, großflächig und hatte keinen Mittelpunkt, aber auf ihre ganz eigene Weise nahmen die Pflanzen ihre Umgebung genauso wahr, wie Eragon es tat. Das schwache Pulsieren ihres Seins durchströmte die Galaxie von Sternen hinter seinen geschlossenen Augen - jeder Stern ein Lebewesen - mit einem weichen, allumfassenden Glühen. Sogar im Boden wimmelte es von winzigen Organismen. Die Erde selbst war ein lebendiges, empfindsames Wesen.
Intelligentes Leben, erkannte er, existiert überall.
Während Eragon sich in die Gedanken und Gefühle der ihn umgebenden Geschöpfe hineinversetzte, gelangte er in einen Zustand so tiefen inneren Friedens, dass er aufhörte, als Individuum zu existieren. Er ließ es zu, ein Nicht-Wesen zu werden, reine Leere, ein Gefäß für die Stimmen der Welt. Nichts entging seiner Aufmerksamkeit, denn seine Aufmerksamkeit war auf nichts gerichtet.
Er war der Wald und seine Bewohner.
Empfindet so ein Gott?, fragte sich Eragon, als er aus der Meditation zurückkehrte.
Er verließ die Baumgrotte, suchte Oromis in seiner Hütte auf und kniete vor dem Elf nieder. »Meister, ich habe vollbracht, was Ihr mir aufgetragen habt. Ich habe gelauscht, bis ich nichts mehr hörte.«
Oromis hielt im Schreiben inne und sah Eragon mit nachdenklicher Miene an. »Berichte!« In den nächsten anderthalb Stunden beschrieb Eragon in aller Ausführlichkeit jeden Aspekt des pflanzlichen und tierischen Lebens im Wald, bis Oromis die Hand hob und sagte: »Du hast mich überzeugt. Du hast alles gehört, was es zu hören gibt. Aber hast du es auch verstanden?«
»Nein, Meister.«
»So soll es sein. Verständnis kommt mit dem Alter. Gut gemacht, Eragon-Finiarel. Wirklich, ausgezeichnet. Wärst du in Ilirea mein Schüler gewesen, bevor Galbatorix an die Macht kam, wäre der Hauptteil deiner Ausbildung nun vollendet, und man würde dich fortan als gleichrangiges Mitglied unseres Ordens betrachten und dir dieselben Rechte und Privilegien einräumen wie den ältesten Reitern.« Oromis stemmte sich aus dem Stuhl und blieb schwankend stehen. »Gib mir deine Hand, Eragon, und hilf mir nach draußen. Meine Beine wollen nicht gehorchen.«
Eragon eilte seinem Meister zu Hilfe und führte ihn zu dem kleinen Bach hinter der Hütte. »Da du nun die höchste Stufe deiner Unterweisung erreicht hast, kann ich dich in eines der größten Geheimnisse der Magie einweihen - ein Geheimnis, das wahrscheinlich nicht einmal Galbatorix kennt. Es ist deine größte Hoffnung, ihn zu besiegen.« Oromis’ Blick wurde scharf. »Was kostet Magie, Eragon?«
»Kraft. Einen Zauber zu wirken, kostet genauso viel Kraft, wie wenn man die Aufgabe mit herkömmlichen Mitteln bewältigen würde.«
Der Elf nickte. »Und woher kommt diese Kraft?«
»Aus dem Körper des Magiers.«
»Muss das unbedingt so sein?«
Eragons Gedanken überschlugen sich, als ihm aufging, was Oromis’ Frage bedeutete. »Ihr meint, sie kann auch von woandersher kommen?«
»Genau das geschieht, wenn Saphira dir mit einem Zauber hilft.«
»Ja, aber sie und ich sind auf einzigartige Weise miteinander verbunden«, sagte Eragon. »Deshalb kann ich von ihrer Kraft zehren. Um dies mit jemand anderem zu tun, müsste ich...« Seine Stimme verklang, als ihm klar wurde, worauf Oromis anspielte.
»Du müsstest in den Geist des Geschöpfs - oder der Geschöpfe - eindringen, deren Kraft du benutzen möchtest«, sprach Oromis seinen Gedanken zu Ende. »Du hast heute bewiesen, dass dir das selbst bei den allerkleinsten Lebensformen gelingt. Also…« Er hielt inne und presste sich beim Husten die Hand auf die Brust, dann sprach er weiter: »Ich möchte, dass du aus dem Bach eine Wasserkugel aufsteigen lässt und dabei nur die Kraft gebrauchst, die dir der umliegende Wald gibt.«
»Ja, Meister.«
Während Eragon nach den Pflanzen und Tieren um ihn herum tastete, spürte er, wie Oromis’ Geist den seinen streifte. Der Elf beobachtete ihn und beurteilte sein Vorgehen. Mit hochkonzentrierter Miene bemühte sich Eragon, der Umgebung die nötige Kraft zu entziehen und sie in sich zu sammeln, bis er seine Magie ausschickte und -
»Eragon! Nicht von mir! Ich bin so schon zu schwach.«
Erschrocken merkte Eragon, dass er Oromis in seine Suche mit einbezogen hatte. »Entschuldigt bitte, Meister«, sagte er verlegen. Er setzte den Prozess fort und achtete dabei darauf, den Elf aus seinen Bemühungen auszuklammern, und als er genügend Kraft in sich aufgestaut hatte, befahl er: »Hinauf!«
Still wie die Nacht stieg aus dem Bach eine melonengroße Wasserkugel empor, bis sie auf Augenhöhe vor Eragon schwebte. Und während Eragon zwar die normale Erschöpfung nach einer großen Anstrengung spürte, ermüdete der Zauber selbst ihn nicht.
Die Wasserkugel schwebte bereits einige Sekunden in der Luft, als die kleineren Geschöpfe, mit denen Eragon in Kontakt stand, plötzlich reihenweise starben. Eine Ameisenkolonne kippte um und blieb reglos liegen. Eine Maus hauchte ihren letzten Atemzug und verendete, als ihr plötzlich die Kraft fehlte, das kleine Herz weiterschlagen zu lassen. Unzählige Pflanzen verwelkten und zerbröselten zu Staub.
Eragon zuckte zusammen, entsetzt darüber, was er angerichtet hatte. Er löste die Magie, worauf die Wasserkugel zu Boden fiel und zerplatzte. Er fuhr zu Oromis herum und schimpfte: »Ihr habt gewusst, dass dies geschehen würde!«
Eine Aura tiefen Mitgefühls umgab den uralten Drachenreiter. »Es war notwendig«, entgegnete er.
»Was, dass so viele Lebewesen gestorben sind?«
»Nein, es war notwendig, dass du begreifst, welch furchtbare Folgen der Gebrauch dieser Art von Magie hat. Bloße Worte können einem nicht das Gefühl vermitteln, das einen überkommt, wenn man die Lebewesen, die einen umgeben, in den Tod schickt. Du musstest es am eigenen Leib erfahren.«
»Das werde ich nie wieder tun«, schwor Eragon.
»Das musst du auch nicht. Wenn man diszipliniert vorgeht, entzieht man die Energie bloß den Pflanzen und Tieren, die den Verlust verkraften können. Im Kampf ist dies natürlich kaum praktikabel, aber im Unterricht kannst du ruhig so verfahren.« Oromis streckte seinen Arm aus, und obwohl Eragons Zorn noch nicht verraucht war, stützte er den Elf und führte ihn zur Hütte zurück. »Du verstehst jetzt sicherlich, warum man jüngeren Reitern diese Technik nie beigebracht hat. Falls ein Magier, der Böses im Schilde führt, davon erführe, könnte er gewaltige Zerstörungen anrichten, besonders da es schwierig ist, jemanden aufzuhalten, der aus einer so riesigen Kraftquelle schöpfen kann.« Als sie in der Hütte waren, ließ der Elf sich seufzend auf seinem Stuhl nieder und presste die Fingerspitzen aneinander.
Auch Eragon setzte sich. »Wenn es möglich ist, Kraft aus dem« - er machte eine unbestimmte Handbewegung - »aus dem Leben zu schöpfen, kann man sie dann auch direkt aus Licht oder Feuer oder anderen Energieformen gewinnen?«
»Ah, Eragon, wenn das ginge, könnten wir Galbatorix von einem Moment auf den anderen vernichten. Wir können Lebewesen Energie entziehen, wir können diese Energie gebrauchen, um unsere Körper zu bewegen oder einen Zauber zu wirken, und wir können sie sogar in bestimmten Gegenständen für den späteren Gebrauch speichern, aber wir können nicht die fundamentalen Kräfte der Natur in uns aufnehmen. Theoretisch müsste dies möglich sein, aber bisher ist es niemandem gelungen, einen Zauber zu wirken, der dies zulässt.«
 
Neun Tage später trat Eragon vor Oromis und sagte: »Meister, gestern Abend ist mir bewusst geworden, dass in den hunderten von elfischen Schriftrollen, die ich gelesen habe, nichts über Eure Religion steht. Woran glauben die Elfen eigentlich?«
Oromis’ erste Antwort war ein lang gezogenes Seufzen, dann sagte er: »Wir glauben, dass der Lauf der Welt unveränderlichen Gesetzmäßigkeiten folgt und dass wir diese Gesetzmäßigkeiten aufspüren und nutzen können, um Ereignisse vorherzusagen, wenn bestimmte Umstände sich wiederholen.«
Eragon blinzelte. Das war nicht, was er wissen wollte. »Aber wen oder was betet Ihr an?«
»Nichts.«
»Ihr betet das Nichts an?«
»Nein, Eragon, wir haben keine Religion. Wir beten nichts und niemanden an.«
Der Gedanke war ihm so fremd, dass Eragon eine Weile brauchte, um zu begreifen, was Oromis meinte. Die Menschen in Carvahall hatten zwar keine vorherrschende Glaubensdoktrin, aber immerhin gewisse abergläubische Vorstellungen und Rituale gehabt, bei denen es überwiegend darum ging, Unglück fern zu halten. Während seiner Ausbildung war Eragon klar geworden, dass viele der Phänomene, die die Dorfbewohner übernatürlichen Kräften zuschrieben, in Wirklichkeit ganz natürliche Vorgänge waren. Zum Beispiel wusste er jetzt, dass Maden aus Fliegeneiern schlüpften und nicht einfach aus dem Boden gekrochen kamen, wie er bis dahin geglaubt hatte. Auch fand er es unsinnig, Opfergaben darzubringen, damit die Naturgeister nicht die Milch sauer werden ließen, denn er wusste nun, dass saure Milch durch die Vermehrung winziger Organismen in der Flüssigkeit entstand. Trotzdem war Eragon nach wie vor davon überzeugt, dass überirdische Kräfte auf geheimnisvolle Weise den Lauf der Welt beeinflussten. Besonders der Glaube der Zwerge hatte ihn in dieser Annahme bestärkt. »Wie ist dann die Welt entstanden, wenn sie nicht von den Göttern erschaffen wurde?«
»Von welchen Göttern, Eragon?«
»Von Euren Göttern, von denen der Zwerge oder von unseren … irgendjemand muss die Welt doch erschaffen haben.«
Oromis hob eine Augenbraue. »Ich bin nicht unbedingt deiner Meinung, Eragon. Aber wie dem auch sei, ich kann nicht beweisen, dass es keine Götter gibt. Ich kann auch nicht beweisen, dass die Welt in ferner Vergangenheit nicht von einer oder mehreren Wesenheiten erschaffen worden ist. Aber ich kann dir sagen, dass in den Jahrtausenden, in denen wir die Natur studiert haben, kein einziges Mal etwas geschehen ist, das nicht mit den Naturgesetzen im Einklang stand. Anders gesagt, wir haben kein einziges Wunder gesehen. Wir können viele Ereignisse nicht erklären, aber wir sind davon überzeugt, dass dies an unserem lückenhaften Wissen liegt und nicht daran, dass irgendeine abstrakte Gottheit die Naturgesetze verändert hat.«
»Das müsste ein Gott auch gar nicht tun, um seinen Willen durchzusetzen«, sagte Eragon. »Er könnte sich innerhalb der bereits existierenden Gesetzmäßigkeiten bewegen. Er könnte Magie gebrauchen, um bestimmte Ereignisse zu beeinflussen.«
Oromis lächelte. »Das stimmt. Aber überleg einmal, Eragon: Wenn es Götter gibt, haben sie dann gut über Alagaësia gewacht? Tod, Krankheiten, Armut, Tyrannei und zahllose andere Plagen suchen das Land heim. Falls dies das Werk göttlicher Wesen sein soll, dann müsste man sich gegen sie auflehnen und sie stürzen, anstatt sie anzubeten und zu verehren.«
»Die Zwerge glauben -«
»Genau! Die Zwerge glauben. Wenn es um bestimmte Dinge geht, vertrauen sie lieber ihrem Glauben als der Vernunft. Es ist weithin bekannt, dass sie bestimmte bewiesene Tatsachen ignorieren, die nicht im Einklang mit ihrem Weltbild stehen.«
»Zum Beispiel?«, fragte Eragon.
»Die Zwergenpriester führen Korallen als Beweis dafür an, dass Steine lebendig sind und wachsen können, und dies bestärkt sie in ihrem Glauben, dass Helzvog das Volk der Zwerge aus Granit erschaffen hat. Aber wir Elfen haben herausgefunden, dass eine Koralle in Wahrheit ein Außenskelett ist, das aus den Ausscheidungen winziger Tiere besteht, die in der Koralle leben. Jeder erfahrene Magier kann diese Tiere wahrnehmen, wenn er seinen Geist öffnet. Wir haben dies den Zwergen erklärt, aber sie taten es ab und behaupteten vielmehr, die von uns aufgespürten Tiere würden in jeder Art von Gestein leben. Allerdings sind ihre Priester bisher die Einzigen, die meinen, in Landsteinen Leben aufgespürt zu haben.«
Eragon starrte eine Weile aus dem Fenster und dachte über Oromis’ Worte nach. »Dann glaubt Ihr also auch nicht an ein Leben nach dem Tod.«
»Du weißt doch, was Glaedr dazu gesagt hat.«
»Und an Götter glaubt Ihr auch nicht.«
»Wir glauben nur an Dinge und Zustände, deren Existenz wir beweisen können. Da wir keinen Beleg für die Existenz von Göttern, Wundern und anderen übernatürlichen Erscheinungen haben, machen wir uns keine Gedanken darüber. Dies würde sich erst ändern, wenn Helzvog sich uns zeigen würde. Dann würden wir unsere Meinung vermutlich überdenken.«
»Eine Welt ohne Glauben scheint mir eine kalte Welt zu sein.«
»Im Gegenteil«, sagte Oromis, »es ist eine bessere Welt. Sie ist ein Ort, wo wir für unsere Taten verantwortlich sind, wo wir gut zueinander sein können, weil wir es so möchten und weil es das Richtige ist, anstatt uns durch die Androhung einer göttlichen Strafe ein bestimmtes Verhalten aufzwingen zu lassen. Ich sage dir nicht, was du glauben sollst, Eragon. Es ist besser, wenn man lernt, kritisch zu denken, und sich dann eine eigene Meinung bildet, als sich von anderen bestimmte Sichtweisen aufzwingen zu lassen. Du hast mich nach unserer Religion gefragt und ich habe dir ehrlich geantwortet. Mach daraus, was du willst.«
 
Ihre Diskussion beschäftigte Eragon so sehr, dass es ihm in den nächsten Tagen schwer fiel, sich auf seine Studien zu konzentrieren, selbst als Oromis ihm beibrachte, wie man zu den Pflanzen singt, und dies war immerhin etwas, das Eragon schon seit langem hatte lernen wollen.
Eragon merkte, dass er aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen längst eine kritischere Haltung zu den Ansichten der Menschen und Zwerge angenommen hatte. Im Prinzip war er mit Oromis in vielen Punkten einer Meinung. Zu akzeptieren, dass die Menschen und Zwerge einem gewaltigen Trugschluss unterlagen, wenn die Elfen ihrerseits Recht hatten, fiel ihm allerdings nicht leicht. So viele Leute können sich doch nicht irren, sagte er sich immer wieder.
Als er Saphira darauf ansprach, erklärte sie: Mich kümmern diese Dinge nicht, Eragon. Drachen haben nie an höhere Mächte geglaubt. Warum sollten wir das auch tun, wenn die Hirsche und Rehe in uns eine höhere Macht sehen? Darüber musste er herzhaft lachen. Man darf die Realität allerdings nie aus den Augen verlieren, nur weil man irgendwo Trost sucht. Denn wenn man einmal damit anfängt, wird man schnell manipulierbar.
In dieser Nacht hielten die Ungewissheiten, mit denen Eragon sich seit Tagen herumplagte, Einzug in seine Wachträume, die wie verwundete Bären durch seinen Geist polterten, zusammenhanglose Bilder aus seiner Erinnerung rissen und zu einem so chaotischen, lärmenden Gemenge vermischten, sodass er sich wieder in die Schlacht von Farthen Dûr zurückversetzt fühlte. Er sah Garrow tot in Horsts Haus liegen, dann Broms Leichnam in der Sandsteinhöhle, und danach sah er das Gesicht von Angela, der Kräuterheilerin, die flüsterte: »Gib Acht, Argetlam, der Verräter ist nahe. Und er wird aus deiner eigenen Familie kommen. Gib Acht, Schattentöter!« Dann riss der blutrote Himmel auf und Eragon erblickte wieder die beiden Armeen aus seiner Vision im Beor-Gebirge. Die beiden Streitmächte prallten aufeinander, Schwerter klirrten, schwarze Pfeile sirrten durch die Luft. Der Boden selbst schien zu brennen. Grüne Flammen schossen aus Erdlöchern empor und verkohlten die Leichen der Soldaten, die im Kampfgetümmel gestorben waren. Weit über ihm vernahm er das Brüllen eines riesigen Tiers, das rasend schnell -
Eragon fuhr im Bett auf und griff nach der Halskette, die im Begriff war, ihm die Brust zu verbrennen. Um die Hand vor der Hitze zu schützen, umwickelte er sie mit seinem Wams und zog sich dann erst den silbernen Hammeranhänger von der Haut. Er blieb im Dunkeln sitzen und wartete. Sein Herz klopfte wie wild. Er spürte, wie seine Kräfte schwanden, während Gannels Schutzzauber denjenigen abwehrte, der ihn und Saphira mit der Traumsicht zu beobachten versuchte. Er fragte sich einmal mehr, ob Galbatorix persönlich dahinter steckte oder ob es einer seiner Handlanger war.
Stirnrunzelnd ließ Eragon den Anhänger los, als das Metall wieder abkühlte. Irgendetwas ist im Gange, das spüre ich schon seit geraumer Zeit, genau wie Saphira. Zu aufgeregt, um in den tranceartigen Zustand zurückzukehren, der neuerdings seinen Schlaf ersetzte, schlich er leise aus dem Zimmer, um Saphira nicht zu wecken, und stieg die Wendeltreppe zum Arbeitszimmer hinauf. Dort klappte er die Blenden einer weißen Laterne auf und las bis zum Morgengrauen in einem von Alalísias Epen, um wieder zur Ruhe zu kommen.
Als Eragon die Schriftrolle beiseite legte, kam Blagden durch das Landeportal hereingeflogen und landete auf dem Schreibtisch. Der weiße Rabe richtete seine glänzenden Knopfaugen auf Eragon und krächzte: »Wyrda!«
Eragon legte den Kopf schräg. »Und mögen die Sterne über dich wachen, Meister Blagden.«
Der Rabe kam näher herangehüpft. Er streckte den Hals und stieß ein bellendes Husten aus, als würde er sich räuspern, dann rezitierte er mit seiner heiseren Stimme:
Überm Schnabel spitz und fein 
Die Äuglein, schwarz wie Stein, 
Seh’n Schurken, finstre Brut 
Und Bäche voller Blut!
»Was soll das bedeuten?«, fragte Eragon.
Blagden zuckte bloß kurz mit den Flügeln und wiederholte den Vers. Als Eragon ihn anschließend erneut nach einer Erklärung fragte, bauschte der Vogel verärgert die Federn und krächzte: »Wie der Vater, so der Sohn, beide blind wie Fledermäuse.«
»Warte!«, rief Eragon und sprang auf. »Du kennst meinen Vater? Wer ist er?«
Blagden krächzte erneut. Diesmal schien er zu lachen.
Zwei von zwei ist eins 
Und eins von zwei ist auch eins, 
Doch eins kann auch zwei sein!
»Einen Namen, Blagden! Nenn mir einen Namen!« Als der Rabe weiter nichts sagte, schickte Eragon seinen Geist aus, um das Gedächtnis des Vogels zu durchforsten.
Doch Blagden war zu gerissen. Er wehrte Eragons Eindringen mit einem flinken Gedanken ab. Er kreischte: »Wyrda!«, sprang vor, zog den gläsernen Stöpsel aus dem Tintenfass und flog mit seiner Trophäe im Schnabel nach draußen. Er war schon im Morgengrauen verschwunden, bevor Eragon einen Zauber wirken konnte, um ihn zurückzuholen.
Eragons Magen verkrampfte sich, während er versuchte, Blagdens Rätsel zu lösen. Dass irgendjemand in Ellesméra seinen Vater erwähnte, hatte er als Allerletztes erwartet. Schließlich murmelte er: »Es reicht.« Blagden schnappe ich mir später und schüttele die Wahrheit aus ihm heraus. Jetzt aber... Ich müsste schon ein kompletter Trottel sein, um diese Hinweise nicht zu verstehen. Er sprang auf und rannte die Treppe hinunter, weckte Saphira und erzählte ihr, was sich zugetragen hatte. Dann holte er den Rasierspiegel aus der Waschkammer und setzte sich so zwischen Saphiras Vorderpfoten, dass sie ihm über den Kopf schauen konnte und sah, was er sah.
Arya wird es nicht gut finden, wenn wir in ihre Privatsphäre eindringen, warnte Saphira.
Ich muss wissen, dass sie in Sicherheit ist.
Das nahm Saphira widerspruchslos hin. Wie willst du sie finden? Du hast gesagt, sie hätte nach ihrer Gefangenschaft einen Schutzzauber gewirkt, der ähnlich wie deine Halskette verhindert, dass man sie mit der Traumsicht beobachtet.
Wenn ich jemanden in ihrer unmittelbaren Nähe beobachte, ist vielleicht auch Arya im Bild. Eragon dachte ganz fest an Nasuada, legte eine Hand über den Spiegel und murmelte: »Draumr kópa!«
Der Spiegel schimmerte und wurde weiß, und dann sah er neun Personen, die um einen Tisch saßen. Eragon erkannte Nasuada und die Mitglieder des Ältestenrats. Das sonderbare kleine Mädchen mit der schwarzen Kapuze hatte er dagegen noch nie gesehen. Er wunderte sich, denn eigentlich konnte man mit der Traumsicht nur Personen beobachten, die man schon einmal angeschaut hatte, und Eragon war sich sicher, dass sein Blick noch nie auf dieses Mädchen gefallen war. Doch er vergaß sie schnell wieder, als ihm auffiel, dass die Männer und sogar Nasuada Waffen trugen.
Lass uns hören, was sie sagen, schlug Saphira vor.
Sobald Eragon die nötige Veränderung an dem Zauber vorgenommen hatte, drang Nasuadas Stimme aus dem Spiegel: »Uneinigkeit wird uns zerstören. Unsere Krieger müssen wissen, wer den Oberbefehl hat. Entscheidet, wer das sein soll, Orrin, und zwar schnell!«
Eragon vernahm ein körperloses Seufzen. »Wie Ihr wünscht. Das Amt gehört Euch.«
»Aber Majestät, sie ist völlig unerfahren!«
»Das reicht, Irwin«, befahl der König. »Sie hat mehr Kriegserfahrung als jeder andere hier in Surda. Und die Varden sind die Einzigen, die schon einmal eine von Galbatorix’ Armeen besiegt haben. Wir könnten uns glücklich schätzen, wenn Nasuada einer unserer Generäle wäre, so sonderbar das klingen mag. Und um Autoritätsfragen werde ich mich gerne nach der Schlacht kümmern, denn das würde bedeuten, dass ich dann noch am Leben sein werde. So wie es aussieht, ist der Feind uns zahlenmäßig derart überlegen, dass wir untergehen werden, falls Hrothgar nicht vor dem Wochenende eintrifft. So... Wo ist diese verflixte Schriftrolle mit den Einfuhrlisten? Ah, ich danke Euch, Nasuada. Was, noch drei Tage ohne -«
Als Nächstes wurde über die Knappheit von Bogensehnen gesprochen, was Eragon nicht weiterhalf, daher löste er den Zauber. Der Spiegel klarte auf und Eragon erblickte wieder sein Ebenbild.
Nasuada ist wohlauf, murmelte er. Seine Erleichterung wurde jedoch überschattet von dem, was sie gehört hatten.
Saphira sah ihn an. Wir werden gebraucht.
Ja. Warum hat Oromis uns nichts davon erzählt? Er muss es doch wissen.
Vielleicht wollte er unsere Ausbildung nicht vorzeitig abbrechen.
Beunruhigt fragte sich Eragon, welche wichtigen Dinge sonst noch in Alagaësia geschahen, von denen er nichts mitbekommen hatte. Roran! Mit einer Anwandlung von Schuldgefühlen wurde Eragon bewusst, dass er seit Wochen nicht an seinen Cousin gedacht und ihn zuletzt auf dem Weg nach Ellesméra mit der Traumsicht beobachtet hatte.
Auf Eragons Befehl offenbarte der Spiegel zwei stehende Gestalten vor einem weißen Hintergrund. Es dauerte einige Sekunden, bis er den Mann zur Rechten als Roran erkannte. Er trug zerschlissene Kleidung, ein Hammer steckte in seinem Gürtel, ein wilder, struppiger Bart verdeckte sein Gesicht und in seinen Augen lag der gehetzte Ausdruck eines verzweifelten Menschen. Der linke Mann war Jeod. Die beiden Männer schwebten auf und ab, untermalt vom Krach herabstürzender Wellen, die alles übertönten, was gesprochen wurde. Nach einer Weile wandte Roran sich um und lief einige Schritte - über ein Schiffsdeck, wie Eragon annahm - und brachte dutzende weitere Dorfbewohner mit ins Bild.
Wo sind sie und warum ist Jeod bei ihnen?, fragte sich Eragon verblüfft.
Er teilte seine Magie in mehrere Ströme und warf in schneller Folge Blicke auf Teirm, wo er den niedergebrannten Hafen sah, Therinsford, Garrows alten Hof und zuletzt auf Carvahall. Eragon stöhnte erschrocken auf.
Das Dorf war verschwunden.
Jedes einzelne Gebäude, einschließlich Horsts prächtiges Haus, war bis auf die Grundfesten niedergebrannt. Carvahall existierte bloß noch als rußiger Fleck am Ufer des Anora. Die einzigen verbliebenen Einwohner waren vier graue Wölfe, die in den Trümmern herumschlichen.
Der Spiegel fiel ihm aus der Hand und zerschellte auf dem Boden. Eragon presste sich an Saphira und vergoss bittere Tränen, denn nun hatte er ein zweites Mal seine Heimat verloren, und dieses Mal offenbar endgültig. Saphira summte beruhigend und streichelte ihn mit der Schnauze sanft am Arm. Kleiner, tröste dich. Wenigstens sind deine Freunde noch am Leben.
Er schauderte und spürte, wie eine grimmige Entschlossenheit von ihm Besitz ergriff. Wir haben uns viel zu lange von der Welt zurückgezogen. Es ist höchste Zeit, dass wir Ellesméra verlassen und uns unserem Schicksal stellen, was immer es sein mag. Fürs Erste muss Roran allein zurechtkommen, aber die Varden... Den Varden können wir helfen.
Ist die Zeit zum Kämpfen gekommen, Eragon?, fragte Saphira mit einem merkwürdig formellen Ton in der Stimme.
Er wusste, was sie meinte: War die Zeit gekommen, das Imperium direkt herauszufordern, es mit allem, was ihnen zur Verfügung stand, zu bekämpfen und dabei bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten zu gehen, so lange, bis Galbatorix tot zu ihren Füßen lag? War die Zeit für einen Kampf gekommen, den zu beenden Jahrzehnte dauern konnte?
Ja, die Zeit war gekommen.

 

 

Der Auftrag des Aeltesten
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
Der Auftrag des Aeltesten_split_000.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_001.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_002.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_003.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_004.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_005.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_006.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_007.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_008.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_009.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_010.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_011.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_012.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_013.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_014.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_015.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_016.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_017.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_018.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_019.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_020.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_021.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_022.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_023.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_024.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_025.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_026.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_027.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_028.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_029.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_030.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_031.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_032.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_033.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_034.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_035.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_036.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_037.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_038.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_039.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_040.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_041.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_042.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_043.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_044.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_045.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_046.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_047.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_048.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_049.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_050.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_051.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_052.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_053.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_054.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_055.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_056.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_057.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_058.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_059.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_060.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_061.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_062.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_063.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_064.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_065.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_066.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_067.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_068.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_069.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_070.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_071.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_072.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_073.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_074.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_075.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_076.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_077.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_078.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_079.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_080.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_081.html
Der Auftrag des Aeltesten_split_082.html